OSTTIROLER
NUMMER 7/2016
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HEIMATBLÄTTER
Der „Große Herrgott“ der Innichner
Stiftskirche am linken Seitenaltar von
St. Andrä, vor einem dunkelroten Vorhang
zwischen den Säulen aufgestellt.
Blick in das linke Seitenschiff der Pfarr-
kirche St. Andrä mit dem großen Kruzifix
am Rosenkranzaltar.
bruderschaft des Heiligen Kreuzes in Rom
angeschlossen wurde. Nach dem Bruder-
schaftsbuch, in dem die Namen aller Mit-
glieder verzeichnet sind, gehörten der from-
men Vereinigung von der Gründung bis zu
ihremVerbot durch Kaiser Joseph II. im Jahr
1785 an die 10.000 Personen an. Durch
fromme Gebete vor dem wundertätigen
Kreuz erwartete sich die fromme Bevölke-
rung Schutz vor der Hölle und dem Teufel,
dem Zauber der Hexen, der Pest, Krieg,
Hunger und Not. Mit der Bruderschaft wurde
zugleich auch das Collegiatstift aufgehoben.
Nach der Zeit der Aufklärung und den
napoleonischen Wirren erstand im Jahr
1818 das alte Collegiatstift Innichen wie-
der und die Verehrung des „Großen Herr-
gotts“ erlebte einen neuen Aufschwung.
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Die Innichner Stiftskirche wurde wieder
Ziel zahlreicher Wallfahrten aus nah und
fern. Bei Bittprozessionen in einem be-
sonderen Anliegen, die in der Marktge-
meinde abgehalten wurden, trug man das
hochverehrte Kruzifix immer mit.
Innichen und der „Große Herrgott“
im Ersten Weltkrieg
Bei Kriegsausbruch 1914 hielt man
unter großer Beteiligung der Bevölkerung
und auch des Militärs eine Prozession mit
dem romanischen Kruzifix ab. Auch nach
der Kriegserklärung des Königreiches Ita-
lien an Österreich-Ungarn im Mai 1915 er-
hoffte man sich vom Großen Herrgott
Hilfe. Auf Ersuchen der Marktgemeinde
wurde am 24. August neuerlich eine Bitt-
prozession abgehalten
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und zwar – wie im
Innichner Bürgerbuch vermerkt ist –
„be-
hufs neuerlicher Erflehung eines für uns
günstigen Kriegsausganges“.
Von allen Kriegsschauplätzen bisher weit
entfernt, war nun für das Kronland Tirol
plötzlich eine völlig neue Situation einge-
treten. Die beiden Pustertaler Bezirke Lienz
und Bruneck gerieten in unmittelbare Nähe
der neu eröffneten Front gegen Italien.
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Die
Orte im Tiroler Gailtal und im Sextental,
durch den Karnischen Kamm voneinander
getrennt, lagen nun ganz nahe an der sog.
Dolomitenfront, Teil der Gebirgsfront, die
sich vom Col di Lana über den Monte Piano
und die Sextner Dolomiten bis zum Karni-
schen Kamm zog. Dieser Frontabschnitt
stand als „Rayon V“ unter dem Kommando
von Feldmarschallleutnant Ludwig Goigin-
ger. – Das Pustertal war schon durch seine
Nähe zur Front durch italienische Artillerie-
angriffe sehr gefährdet. Die Italiener ver-
suchten immer wieder die Eisenbahn in die-
sem Tal, eine wichtige Nachschublinie der
Armee, zu unterbrechen. Der Beschuss
durch das Sextental und das Höhlensteintal
richtete tatsächlich große Schäden an. Das
Dorf Sexten wurde gänzlich zerstört, Toblach
und Innichen erlitten ebenfalls Schäden.
Auch im Markt Sillian schlugen laufend ita-
lienische Granaten ein. In der Stadt Lienz
stellte man Überlegungen bezüglich einer
eventuellen „feindlichen Invasion“ an.
Sogleich wurde am Turm der Pfarrkirche
St. Andrä eine Fliegerwache eingerichtet,
die durch lange Zeit besetzt blieb.
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In Lienz
und im Pustertal tauchten tatsächlich bald
schon italienische Flugzeuge auf.
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Zu einer
Unterbrechung der Bahnlinie oder zu einem
italienischen Vorstoß kam es jedoch nie.
Nachdem die Italiener imApril 1916 be-
gonnen hatten, Innichen zu beschießen,
führte die als unsicher erachtete Lage des
Marktes zur Überlegung, das berühmte und
hochverehrte Kruzifix der Stiftskirche nach
Lienz in Sicherheit zu bringen.
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Schweren
Herzens und nicht vorbehaltlos entschloss
man sich, das Kreuz in die Stadtpfarrkirche
zum hl. Andreas zu bringen.
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Die Eintra-
gung im Bürgerbuch der Gemeinde Inni-
chen drückt einige Bedenken aus:
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„Wenn
auch ein Protest dagegen nichts genützt
hätte, so wäre aber wenigstens die Frage zu
erörtern gewesen, ob Lienz von den wel-
schen Granaten etwa wohl sicher ist. – Wer
die geografische Lage kennt, wird diese
Frage verneinen müssen und überhaupt
haben die italienischen Flieger in Lienz ja
schon Bomben abgeworfen.“
Während man die beiden Assistenzfigu-
ren Maria und Johannes imVillgratental in
Sicherheit brachte, ging der Transport mit
dem wertvollen Kreuz in den frühen Mor-
genstunden des 16. Juli 1916 nach Lienz
ab. Er erfolgte nicht – wie man annehmen
möchte – mit der Eisenbahn, sondern mit
einem Fuhrwerk, von einem Pferd gezo-
gen. Eine Serie von acht Aufnahmen in
Lienzer Privatbesitz dokumentieren die
Ankunft und die Aufstellung des Innichner
Kreuzes in der Pfarrkirche. Für die pro-
fessionellen Aufnahmen mit Glasplatten
im Format 13 x 18 cm kommen wohl nur
Maria Egger vom Atelier Georg Egger
oder Hans Fracaro, seit 1907 in Lienz als
Berufsfotograf ansässig
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, in Frage.
Am 21. Juli 1916 berichteten die Lienzer
Nachrichten über die Ankunft der kost-
baren Fracht:
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„Das altehrwürdige Innichener Kreuz in
Lienz. – Am Sonntag, 16. Juli, abends zog
durch die Adolf Purtscher-Straße ein durch
die Eigenart seiner Ladung auffallendes
Fuhrwerk gegen die Stadtpfarrkirche. Ver-
wundert blieben Stadtbewohner stehen und
berieten in lebhaftemWortwechsel, was auf
diesem Brückenwagen so merkwürdig ver-
packt sein möchte. Niemand ahnte, daß
hier wohlgeborgen der größte Schatz von
Innichen und ein unbezahlbar wertvolles
Werk der Bildhauerei aus den ältesten Zei-
ten liege, das hochverehrte Kreuz von
Innichen. Vom Spingeser
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Bauer in Inni-
chen wurde es mit Pferd unter Begleitung
des hochw. Herrn Kooperators Ferdinand
Keim hierhergeführt. Am Pfarrhof war es
angemeldet, und es standen schon ver-
ständige Männer bereit, das ehrwürdige
Kreuz abzuladen und in die Stadtpfarr-
kirche zu bringen. Dort wurde es vor dem
Rosenkranzaltar über Nacht auf den Kin-
derbänken niedergelegt, um am kommen-
den Tage seinen neuen Standplatz zu be-
ziehen. Der hochwürdige Herr Dekan und
Stadtpfarrer Gottfried Stemberger ließ vom
genannten Altar das Altarbild, die Geburt
Christi, ausheben und einen dunkelroten
Tuchhintergrund anbringen. Bis Montag,
den 17. Juli, nachmittags hatten die beiden
Tischlermeister Stollwitzer und Obbrugger
die nötige Vorrichtung hergerichtet und das
Kreuz wurde aufgestellt, ohne weder
durch die Reise noch durch die Aufrichtung
irgendeinen Schaden zu nehmen. Das
Kreuz steht ganz ausgezeichnet schön zwi-
schen den schönen Säulen des Altars. Die
Lienzer Pfarrkirche beherbergt somit zwei
berühmte Kruzifixe.“
Wie eine Aufnahme zeigt, waren bei der
Übergabe an den Lienzer Dekan und Stadt-
pfarrer auch einige prominente Innichner
zugegen. Für die mühevolle Identifizierung
der einzelnen Personen sei Herrn Dr. Egon
Kühebacher (Innichen) herzlich gedankt.
Das Innichner Kruzifix am Rosenkranz-
altar im linken Seitenschiff wurde von den
Lienzer Gläubigen sehr geschätzt, was in
einem Artikel der Lienzer Nachrichten
vom 23. Feber 1917 ausgedrückt wird:
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„Wieder stehen wir an den Portalen der
Fastenzeit. Nicht mit dem Grauen, das uns
in früheren Jahren befiel, wenn nach der
übertollen Dienstagsnacht der Aschermitt-
woch dämmerte, nicht mit widerstrebendem
Gefühl überschreiten wir die Schwelle.“