Ein Bericht von Gottfried Stotter
„Und nun lasse ich die Glocken selbst reden“
OBERLIENZerlesen
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Unter seiner Kirchenführung
wurde der Kirchturm wieder
aufgebaut, neue Seitenaltäre
errichtet, Taufstein und
Tabernakel errichtet.
Am 9. d. Monats ist in Oberlienz
bei Lienz im Pusterthal der 150
Fuß hohe Kirchthurm einge
stürzt. Es war 7 Uhr Morgens, da
vernahmen die Bewohner der
nächstgelegenen Häuser ein Ge
räusch, als wenn scheu gewordene
Pferde sammt Wagen über Stock
und Block setzten, und als sie
nach der vermeinten wilden
Fahrt sehen wollten, fanden sie
den Kirchthurm bis auf den Fuß
in Trümmern auf der Erde. Wei
ter Entfernte hielten den aufstei
genden Staub für den Rauch einer
Feuersbrunst. Der ganze obere
Theil des Friedhofes war mit
Bruchstücken aller Art bedeckt,
die Spitze des Kirchthurmes warf
es über die Umfriedung des
Kirchhofes und über den Weg
hinüber in die Gärten der Nach
barhäuser, die große Glocke war
in zwei Theile gebrochen, von ei
ner andern die Krone abgerissen,
jede aber mehr oder minder be
schädigt. Auch die Kirche selbst
erlitt arge Verletzungen, so daß
die Paramente und die Altäre
selbst allsogleich abgetragen und
die Gewölbe, namentlich das Pres
byterium, gestützt werden muß
ten. Man kann sich den Schrecken
der Gemeinde vorstellen, welche
noch theilweise unter der Last der
für die neuen Glocken gemachten
Schuld von 6.000 Gulden leidet,
und jetzt ohne Glocken, ohne
Thurm, ohne Kirche ist.
Die Ursache dieses seltenen Falles
soll, wie der Tirolerbote äußerst
scharfsinnig bemerkt, eher in der
schlechten Bauart und in der
schlechten Beschaffenheit des
Baumateriales, als in der Beschaf
fung der neuen Glocken und des
dadurch erhöhten Gewichtes zu
suchen sein. Wie durch ein Wun
der aber ging kein Menschenle
ben zu Grunde.
Der Meßner hat 10 Minuten frü
her, nachdem er die Thurmuhr
gerichtet hatte, die Stelle des Un
heils verlassen und konnte der
Schauerszene des Sturzes als Au
genzeuge zusehen.
Große Opfer erbrachte die Gemeinde für die An
schaffung der neuen Kirchenglocken, die von der
Firma Graßmayr in Innsbruck gegossen wurden.
Am 24. September 1862 wurden die Glocken in
Oberlienz feierlich in Empfang genommen. Pfarrer
Told schloss seine eindrucksvolle Predigt mit den
Worten: „Und nun lasse ich die Glocken selbst re
den.“ Als dann das Geläute zum ersten Mal ertönte,
blieb kein Auge trocken, berichtet der Chronist Ja
kober. Die Freude dauerte leider nicht lange.
Weiters erfahren wir aus der Kirchenchronik von der
Bildung eines Glockenkomitees im Jahre 1862, zu der
Anton Neumair erstmals als Kapellmeister erwähnt
wird.
Berichte von diesem Ereignis auch in den
Zeitungen: das Vaterland | Innzeitung |
Pustertaler Bote | Bote für Tirol.
Feldkircher Zeitung vom 22. Juni 1886
Kirchturm eingestürzt
Pfarrer Franz Told
Pfarrer in Oberlienz
von 1854 bis 1875.
Fotos: Chronik
anno dazumal